Forum Übersicht - RE: Bei Misaki - 3

Sundara wirft ihren Kopf in den Nacken, schaut einige Augenblicke an die Decke des Raumes. Ihre Lippen formen einige stumme Worte. Es wirkt nicht, als wäre es ein frommes Gebet an eine Gottheit. Es wirkt auch nicht, als wäre es irgendeine Form einer Meditation. Vielmehr wirkt es so, als würde sie einer äußerst profanen Tätigkeit nachgehen. Es wirkt so, als würde sie... einfach nur herzhaft fluchen. Schließlich schaut sie Ira wieder an. In ihren Augen blitzt es kurz auf. Und als sie nun zu reden beginnt, ist von dieser bedachten Ruhe nicht mehr viel übrig. Nein, sie schreit sie nicht an, sie ist meilenweit davon entfernt, sie spricht auch in keinem richtig unfreundlichem Ton, und doch klingt das, was sie sagt, ziemlich resolut. Und noch etwas fällt in der Rede auf. Aber das wird der Leser selbst erkennen.

"Meine Fresse," sagt sie also, "das kann doch nicht sein, dass ihr beide euch wirklich in ALLEM ähnlich seid. Die Eine säuft sich jedes Mal die Birne weg, und die Andere redet überhaupt von dem Weg der Ehre... Könnt ihr nicht einfach so reagieren, wie jeder andere normale Mensch auch? Ich sag dir was, ALLES verwandelt sich irgendwann in Scheiße. Und diese Scheiße nehmen dann die Bauern, hauen sie auf die Felder, und daraus wächst etwas Neues. Aber ihr, ihr versteht das einfach nicht. Ihr denkt immer, wenn euch ein Zacken aus der Krone bricht, alles wäre aus und die Welt hätte sich gegen euch verschworen, ihr wärt weniger wert wie ein halb verwester Zwysel. Und jetzt kommt auch noch der Weg der Ehre! Was für eine Ehre ist es denn, einfach abzuhauen auf Yoroms Eisfelder? Was meinst du denn, wie das in Estichà ausgeschaut hätte, nachdem Vorovis gefallen ist, dann Yedea, und alle hätten gesagt: 'Mann, haben wir das verschissen, Weg der Ehre!' und so Zeugs? Dann könntest du mit Sicherheit sagen, dass es die Garnison nicht mehr gibt. So kannst du das ja gar nicht wissen, vielleicht gibt es wieder eine Garnison mit dem blauen Ira-Verra-Banner oder so Zeug. Aber freilich, ist ja nicht möglich, weil ist ja alles so schlimm! Und im Endeffekt braucht ihr nur jemanden, der euch so lange in den Arsch tritt, bis ihr denselben wieder hochbekommt, und alles wieder weitergeht, der kapiert hat, dass ihr verfrellt nochmal wahnsinnig coole Leute seid, die sämtlichen Göttern der Röhre dankbar sein sollten, dass sie euch genau so gemacht haben, wie ihr seid. Weil ihr beide ausschaut, als hätte euch ein Künstler gemalt, weil ihr so gut wie alles könnt, was ihr können wollt. Aber euer Ego ist euch immer wieder im Weg, und dann kommen Situationen raus wie mit dem Vollspast im Silberkrug oder eben das Weg-der-Ehre-Gesülze hier. Also, neben dir liegt eine Asnivala. Steck sie dir in den Bauch! Aber wenn du wirklich Ehre in dir hast, dann nimmst du sie, und beweist der ganzen Röhre, dass du genau die Richtige bist, so eine Waffe zu tragen. Und irgendwann baust du dir dann auch so einen beschissenen Klunker dran, wenn dir daran so viel liegt. Aber hör mit dem Gesülze auf, das hab ich schon sooooo oft gehört, dass ich fast schon Brechreiz davon kriege. Das seid ihr nämlich beide nicht! Ihr seid beide so verfrellt viel besser als das! Verfrellt noch mal!"

Sie sieht Ira an. Sie muss nach dieser doch recht schnell vorgetragenen Rede etwas Luft holen, bevor sie hinzufügt: "Und nein, ich lass dich nicht allein! Dazu bedeutest du mir zu viel! Wenn, dann musst du dich schon vor meinen Augen umbringen. Damit ich dir, bevor du stirbst, noch ordentlich in die Fresse hauen kann!"

Es dauert nicht lange nach der Rede Sundaras, da öffnet sich mit einem leisen Geräusch die Schiebetüre zu dem Zimmer in dem sich die beiden Frauen befinden. Misaki tritt ein und trägt ein Lacktablett vor sich her, auf der ein länglicher Gegenstand liegt, der mit einem blütenweißen Tuch bedeckt ist. Sie verbeugt sich leicht in Richtung Sundaras. „Verzeiht, wenn ich euch stören muß. Ich habe nicht unhöflich gelauscht, aber die Türen sind aus Papier, so habe ich das Meiste eurer Worte vernommen. Ich bin für ihr Befinden verantworlich und so leid es mir tut, aber ich muß euch jetzt bitten, mich für einen Moment mit Ira allein zu lassen. Ihr könnt gerne auf der Veranda warten, es wird nicht sehr lange dauern.“ Misaki verbeugt sich nochmals vor Sundara.

Sundara sieht auf zu Misaki. Es ist ein überraschter Blick, und es ist auch ein vorwurfsvoller Blick. Es ist ein typischer Muss-das-gerade-jetzt-sein-Blick. Aber Sundara lässt sich auf keine Diskussion ein. Sie steht also auf und verlässt den Raum. Die Asnivala lässt sie im Bett von Ira liegen.

Auf der Veranda angekommen, gehen Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel, und sie geht erst mal in die Hocke. Es dauert gar nicht lange, da nähern sich ihre Knie immer mehr dem Boden an, dann lässt sie sich nach vorne fallen. Die Hände wandern auf den Hinterkopf. Die bebenden Schultern verraten den Grund für diese recht unbequem aussehende Haltung. Aber es ist ein leises Weinen, unmöglich, dass die beiden Damen im Zimmer etwas davon mitbekommen.

Still wartet Misaki bis Sundara den Raume verlassen hat, dann geht sie zu der Seite des Bettes auf die Ira ihren Kopf gedereht hat und läßt sich in einer anmutigen Bewegung auf die Knie nieder. Sie stelt das Tablett ab, entfernt das Tuch und legt es sorgsam daneben. Auf dem Tablett liegt ein Dolch in eine Lackscheide. „Ich habe dir die Ehrenklinge meines Hauses gebracht, mein Kind. Sie ist über dreihundert Stürme im Besitz meiner Familie und nur zu einem einzigen Zweck geschmiedetet worden . Einige meiner Vorfahren haben sie gebraucht. Ich respektiere deinen Entschluß, denn er ist ehrenhaft und einer Kriegerin würdig. Es wäre mir und meinem Haus eine große Ehre würdest du diese Klinge benützen um deine Ehre über die Schande zu stellen.“ Tief verneigt sich Misaki vor Ira. „Der Tod ist leichter als eine Feder.“: zitiert Misaki die Inschrift auf dem Rollbild. „Aber...ist deine Pflicht erfüllt, Ira? Prüfe es, denn es ist auch eine Schande sich vor der Pflicht in den Tod zu flüchten. Ich spreche nicht von der Pflicht deinem Land und deinem Herrscher zu dienen, ich spreche von der höchsten Pflicht jedes Kriegers, sich selbst zu erkennen, sein wahres Selbst und unbeirrbar seinen eigenen Weg zu gehen. Bist du deinen eigenen Weg zu Ende gegangen, Ira? Oder sitzt du noch immer in einem Käfig, so wie der Schmetterling in einer Raupe gefangen ist? Es gibt eine alte Legende meines Volkes. Alle sieben mal sieben Jahre kommen die stärksten Fische in einem Fluß zusammen um einen Wasserfall zu überwinden. Der Wasserfall ist so hoch und reißend, daß es völlig unmöglich scheint ihn zu überwinden. Doch sie versuchen es, springen immer wieder, schlagen mit ihren Flossen um sich, schnellen sich aus dem Wasser bis einer von ihnen es schafft und in dem Moment indem er den Wasserfall überwunden hat, verwandelt er sich in einen Drachen, der seine Flügel ausbreitet und fliegt. Bist du schon ein Drache, bist du schon geflogen, mein Kind? Oder bis du noch mit den anderen Fischen unten, dort wo das Wasser schäumt vor Gischt? Prüfe dich, Ira Verra, dann entscheide. Rufe mich, wenn es so weit ist und es wird mir eine Ehre sein, dir auf dem Weg der Ehre zu sekundieren, aber es wird mir eine Freude sein, dich zu lehren wie man springt.“ Nochmals verbeugt sich Misaki tief, dann erhebt sie sich und geht hinaus. Draußen auf der Veranda, läßt sie sich bei Sundara nieder. Sie sieht sie an, die geröteten Augen. „Kein Grund zu weinen, es liegt alles in der Hand der Göttin. Wir müssen nur warten.“: sagt sie leise und greift nach der Teeschale.

Als so beide auf der Veranda sitzen kommt Bhok scheinbar zufällig vorbei. Er sieht Sundara und sein Blick wird mitfühlend. Bhok selbst hat von dem Vorfall nichts mitbekommen, doch war eine soeben noch gut gelaunte Sundara jetzt auf einmal am Boden zerstört. Langsam geht er auf die Beiden zu. Misaki kennt Bhok auch noch nicht. Das Herannahen von Bhok bleibt ihr sicherlich nicht unbemerkt und so deutet Bhok eine leichte Verbeugung an. "Sundara? Was habt ihr" beginnt er langsam.

Misaki wird die rotgeweinten Augen wohl erst zu Gesicht bekommen, als sich Sundara wieder aufrichtet und sich auf ihre Fersen setzt. Die Tränen in den Augen verschwinden wie aus Knopfdruck, und mit ihrem verbliebenen Ärmel fährt sie sich über das Gesicht. Sie macht nicht den Eindruck, als würde sie sich des Weinens schämen. Es wirkt eher, als würde sie einfach eine unpassende Tätigkeit einstellen wollen - was ihr ziemlich gut gelingt. Einen Augenblick lang sieht sie Misaki einfach nur an. Die Augen bleiben traurig - so weit geht die emotionale Metamorphose nicht. Sie seufzt tief. Es ist nicht auszumachen, ob ihr der Gedanken an irgendwelche Götter nun Trost spendet oder nicht, und auch ihre Antwort lässt wenig darauf schließen, dass sie sich intensiv damit beschäftigen würde.

"Wann kann ich wieder zu ihr?" fragt sie unverblümt und stellt damit ihre Prioritäten klar.

Misaki wird wohl nicht zum Antworten kommen, denn in diesem Moment tönt auch schon das "Sundara, was habt ihr?" über das Geländer der Veranda. Einen kleinen Augenblick wird die Angesprochene nun doch rot, doch ist dieses Zeichen tiefer Verlegenheit von kurzer Dauer und von Bhok, der sich ja hinter der Schwarzhaarigen befindet, auch kaum zu bemerken. Sundara dreht sich um, erblickt den blonden Elurier und steht sofort auf.

"Ich?" fragt sie zunächst und setzt ein Lächeln auf, dem dieses Mal die Augen nur bedingt folgen können. "Ich... ähm... ich habe gar nichts. Ich bin nur, bin nur gerade ungeschickterweise gegen den Türstock gelaufen. Ja, man sollte halt immer schauen, wo man hinläuft, nicht wahr?"

Dabei kramt sie nun doch ihr Rauchzeug hervor, geht in die äußerste Ecke der Veranda, lehnt sich gegen das Geländer und steckt sich eine Zigarette in den Mund.

"Darf ich?" fragt sie dann doch die Gastgeberin und stellt damit unter Beweis, dass Sundara wohl nicht die eleganteste Erscheinung unter dem Sonnenring sein wird, aber doch einige Manieren hat.

„Das hängt davon ab, wie sich Ira entscheidet.“: entgegnet Misaki. „Sie braucht jetzt Zeit, Sundara. Es ist nicht immer einfach zu erkennen welchen Pfad man gehen muß. Möge ihr die Göttin Kraft geben, das zu tun was notwendig ist.“. sagt die ältere Frau und trinkt einen kleinen Schluck Tee. Misaki zeigt den Ärger nicht über den Unbekannten der uneingeladen in ihren Garten eingedrungen ist. Doch es ist nur ein kaum merkbares Kopfnicken welches sie für ihn über hat, dann dreht sie sich so, daß sie dem Fremden den Rücken zuwendet und streicht ihn aus ihrem Gedächtnis. Als sich Sundara erkundigt, ob sie rauchen dürfe, nickt Misaki. „Hier auf der Veranda schon. Doch nehmt euch bitte eines der Schälchen für die Asche.“ Sie nimmt eine der kleinen Schalen vom Tablett mit der Teekanne und stellt es auf den Tisch. Dann legt sie ihre Hände ineinander und wartet still.

Sundaras Gesicht verdunkelt sich nun zusehends, je weiter Misaki spricht. Immer wieder kehrt ihr Blick zurück zu der Tür, die Tür, durch die sie sichtlich nur zu gern gehen würde. Aber etwas hält sie davon ab, und es ist anzunehmen, dass dies wohl die Ausstrahlung der älteren Frau ist - vordergründig freundlich und zuvorkommend, doch insgesamt auch respekteinflößend, fast schon einschüchternd in ihrer offen zu Schau gestellten Weisheit. Eine Zeit lang lehnt Sundara noch an dem Geländer, locker und gelassen von der Körperhaltung her, und doch sprechen die Augen sowie die Zähne, die unentwegt die Unterlippe bearbeiten, eine ganz andere Sprache. Schließlich löst sie sich von dem Geländer und kommt zu dem Tisch. Sie bückt sich zu dem Schälchen, und während sie es nimmt, sagt sie leise, so dass es der noch immer im Garten stehende Bhok wohl hören, aber nicht verstehen kann: "Wenn eine junge Khita in einen Brunnen fällt, kann sie den Pfad wohl erkennen, aber einschlagen kann sie ihn nicht, wenn niemand da ist, sie herauszuziehen."

Sagt es, kehrt zurück zu ihrem Geländer, stellt das Schälchen darauf und entzündet die Zigarette. Ihr Blick geht dabei wieder zu der Tür, ungeduldig und noch immer sichtlich nervös, und diese Nervosität scheint mit jedem Wimpernschlag, während dessen Stille im Haus herrscht, zuzunehmen. Bald nimmt sie das Schälchen wieder von dem Geländer, lässt sich zu Boden sinken, kauert nun vor dem Geländer, mit dem Rücken an dasselbe gelehnt.Das Schälchen vor sich auf den Boden gestellt, zieht sie immer wieder an der Zigarette, und wenn sie nicht gerade das tut, dann kaut sie auf ihren Fingernägeln.

Für einen Augenblick lächelt Misaki. „Beunruhigt euch nicht. Ira ist keine junge Khita, sie ist eine Kriegerin, stark und mutig wie ein Jagdfalke. Sie muß es nur erkennen und ihr wart, verzeiht wenn ich das so offen ausspreche, keine große Hilfe. Ihr könnt nicht einer Kriegerin die nach einem Kodex lebt, erklären das dieser Kodex lächerlich ist. Ihr erzeugt damit nur Trotz und Widerstand. Der Weg der Ehre ist ein guter Weg, wenn er richtig gegangen wird. Einige meiner Vorfahren haben sich so ihre Ehre bewahrt und ich empfinde großen Stolz wenn ich an sie denke. Ich will gar nicht auf Sinn oder Unsinn ihres Kodex eingehen, das ist auch nicht wichtig. Ira muß erkennen und urteilen! Sie muß ihren eigenen Weg finden und gehen und wenn es der der Ehre ist, werden wir sie würdig bestatten und ihr Andenken in Ehren halten. Aber ich habe Vertrauen in sie und ihre Stärke.“ Wieder lächelt Misaki. „Noch etwas Tee?“

Zuerst ist da Trotz, dann kommt die Wut. Was bildet sich die verdammte Ketzerin ein? Versteht nichts, aber gar nichts und redet blöde. Doch bevor Ira ihrer Wut Luft machen kann, kommt Misaki herein. Ira ist froh, daß sie die Elurierin hinausschickt. Sie will nichts mehr hören. Ihre Scham und ihre Unfähigkeit frißt sie auf. Als Misaki die Klinge abdeckt und erklärt was es für eine Waffe ist, schaut Ira zu ihr. Sie hatte Misaki auf den ersten Blick gemocht. Jetzt aber wird daraus tiefe Zuneigung. Ira ist dankbar, für Misakis Verstehen für ihren Zuspruch. Sie hört ihr zu. Sie hört ihr sehr genau zu. Als Misaki gegangen ist, setzt sich Ira auf. Sie greift nach der Ehrenklinge. Geräuschlos gleitet die Waffe aus der Scheide. Licht spiegelt sich auf der makellosen Klinge die rasiermesserscharf ist. „Der Tod ist leichter als eine Feder.“: sagt sie leise. Sie setzt die Klinge unter ihrer linken Brust auf die Haut.

Stumm schüttelt Sundara den Kopf. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Die Zigarette ist schon aufgeraucht. Sie drückt sie in dem Schälchen aus. Dann beginnt sie, die Finger aus dem Mund nehmend, mit dem Kopf im Takt eines Herzschlages gegen das Geländer hinter sich zu schlagen. Ihr Blick geht dabei nach oben, zu dem Dach der Veranda. Wohl sieben oder acht mal macht sie das. Dann steht sie auf. Sie sieht Misaki an. Die Aufforderung, sich zu beruhigen, war wohl reine Makulatur. Eine ganze Zeit steht sie da, schaut die ältere Frau an. Die Anspannung ist ihr in das Gesicht geschrieben.

"Ich kenne nur einen Kodex," bricht sie schließlich ihr Schweigen, "und das ist Kämpfen bis zum Schluss. Wenn eine Schlacht verloren geht, sich neu formieren und umso härter angreifen. Da bleibt wenig Platz für irgendwelche Ehre. Besonders wenn diese Ehre dich daran hindert, weiterzukämpfen."

Sie fährt mit der linken Hand zu ihrer verbunden Schulter, kratzt etwas am Verband. Die Hand zittert wie trockenes Laub in der Abendbrise.

Kalt ist die das Metall. Ihre Hand zittert nicht, sie hat keine Angst. Die Tür zu den Eisfeldern ist schon einen Spalt offen. Doch immer wieder geht ihr eine Frage Misakis durch den Kopf: „Bist du schon gesprungen?“ Sie schaut in sich. Läßt ihr Leben an sich vorbei ziehen. Beschönigt nichts, schaut sich in den Spiegel. Sie weiß nicht wie viel Zeit vergeht. Es kann ein Herzschlag sein, es können Stunden sein. Noch immer sitzt sie da, die Klinge unter der Brust. Noch immer hält sie Gericht. Sie ist Ankläger, Angeklagte, Richter und Henker in einer Person in ihrem Gerichtshof. Sie spürt es zuerst, dann faßt sie es auch im Gedanken. Sie ist immer noch ein Fisch am Wasserfall. Sie ist noch nicht gesprungen! Es ist Ira als lastet plötzlich ein großes Gewicht auf ihren Schultern. Trotzdem weiß sie, es ist richtig so. Langsam zieht sie die Hand mit der Waffe zurück. Behutsam und sachte schiebt Ira die Klinge zurück. Sie ist noch nicht gesprungen! Das weiß sie jetzt. Sie weiß auch, daß sie am Anfang steht. Ganz am Anfang und es schwer sein wird. Dann ruft sie Misaki.

Misaki sieht zu wie Sundara ihren Kopf immer wieder gegen das Geländer schlägt. Sie sagt nichts dazu und antwortet erst auf Sundaras Aussage.
„Das ist euer Kodex und ist ganz offensichtlich nicht der Iras.“: entgegnet Misaki ruhig. „Über Sinn und Unsinn einer Weltanschauung kann man dann debattieren, wenn der Kopf und das Herz frei sind, nicht wenn einem die Trümmer der eigenen Welt auf den Kopf fallen.“ Sie nimmt noch einen Schluck Tee. „Ihr habt…….“ Dann unterbricht der Ruf Iras ihre Worte. Lächelnd erhebt sie sich. „Geduldet euch noch einen Moment.“: sagt sie und verläßt die Veranda. Die Türe zieht sie diesmal nicht zu. Als sie Iras Zimmer betritt lächelt sie und setzt sich neben Ira auf den Boden.

Wer gedacht hat, Sundara würde sich beruhigen, als Iras Ruf ertönt, der irrt. Schließlich lässt er darauf schließen, dass sie eine Entscheidung getroffen hat. Niemand kann wissen, welche es ist. Und nun ist also der Moment gekommen, in dem diese Entscheidung offenbart wird. Zunächst weiten sich Sundaras Augen, und atemlos sieht sie Misaki an. Dann sieht man ihr förmlich an, wie sich ihre Nerven bis zum Zerreißen spannen. Sie verzieht wie vor Schmerz das Gesicht, dann krümmt sie sich zusammen, kauert sich schließlich auf den Boden, unweit der Tür. Daumen und kleiner Finger pressen auf die Nasenwurzel, die geballte Faust drückt gegen die Stirn. So verweilt sie als Misaki den Raum betritt. Sie wagt es nicht, den Raum zu betreten. Ihre Ohren sind jedoch weit offen, sie konzentriert sich auf das Gehör. Vielleicht kann sie ja so vernehmen, was im Raum gesprochen wird. Dass Bhok immer noch da ist und ihr zusieht, darauf scheint sie überhaupt nicht mehr zu achten.

Iras Lächeln ist scheu. Ihre Augen sind immer noch rot und verschwollen. Aber sie schaut Misaki an und weicht ihrem Blick nicht aus. Ohne Misaki wäre sie jetzt schon in Xiths kaltes Reich eingezogen. Es ist nicht nur Dankbarkeit und Zuneigung. Auch Bewunderung ist in ihrem Blick. Dann gibt sie sich einen Ruck und reicht Misaki die Ehrenklinge. Soviel hat sie zu sagen und keine Worte dafür. „Danke.“ sagt sie dann schlicht. „Ich bin noch nicht gesprungen!“: erklärt sie leise . Es ist ihr immer schwer gefallen um etwas zu bitten. Jetzt aber kommt es aus dem Herzen. „Bitte lehrt mich wie man springt, Misaki. Ich weiß, daß es schwer sein wird und ich weiß nicht ob ich es schaffe. Aber ich will es versuchen. Mit aller Kraft die ich hab. Das versprech ich euch.“ Immer noch hält sie der älteren Frau die Ehrenklinge entgegen. Ihre Hand zittert nicht.