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<—— Das alte, neue Haus

Es dauert nur wenige Augenblicke, schon hat Sundara den Garten vor dem Haus durchmessen. Wenig elegant erscheint Sundara wohl, wenn sie sich gehend fortbewegt, doch beim Rennen scheint sie einige Übung zu haben. Mit weiten Sätzen bewegt sie sich fort, einer Chirà gleich, wenn freilich ihre Beine ungleich kürzer sind. Weich rollen dabei ihre Stiefel auf dem Pflaster ab, wodurch auch der Lärm, den sie dabei verursacht, wohl wahrnehmbar, aber keinesfalls laut erscheint. Ihr Atem geht ruhig, und niemandem wäre der Gedanke gekommen, als könne sie dieses Tempo nicht lange aufrechterhalten. Dabei bleibt ihr Oberkörper auffallend ruhig, der Bogen liegt fast unbeweglich in seinem Köcher. Freilich bilden sich in der noch immer schwülen Hitze bald Schweißperlen auf ihrer Stirn, die unbeschädigte linke Schulter ihres Hemdes klebt nass auf der Haut. Und so dauert es gar nicht lange, so ist sie auch schon bei dem Haus der Heilerin angekommen. Nun stürmt sie nicht achtlos darauf los. In einer Entfernung von ungefähr 100 Vat bewegt sie sich eng am Rand der Straße weiter, immer langsamer, und hat dabei das Haus scharf im Auge, etwaige Bewegungen oder einfach Verdächtiges zu erkennen versuchend. Schließlich springt sie in die den Garten der Imkerin begrenzenden Büsche und schaut zu der Veranda.

Mit einer Hand versucht Sundara, die Libellen zu verscheuchen. Ob sie nun eine trifft, beschädigt oder gar zerstört, das bleibt alleine der Reaktionsfähigkeit der vermeintlichen Tiere überlassen. Wenn freilich die Bewegung von Sundara nicht gerade langsam vor sich geht. Jedenfalls beobachtet Sundara das Haus eine ganze Weile. Als sich jedoch nichts bewegt, huscht sie im Schatten der Gebüsche vor zu dem Haus, hockt sich vor ein Fenster und lugt hinein. Gerade einmal der dunkle Haarschopf und ihre Stirn dürften von innen zu bemerken sein, und auch das ist ob des inzwischen eingebrochenen Halbdunkels wohl nur einem äußerst aufmerksamen Beobachter möglich. So wird sie dann die Runde das Hauses machen, über die Veranda, bis sie wieder im Garten angekommen ist. Sollte sie auch da nichts bemerken, klettert sie behende auf das Dach der Veranda um die Fenster im oberen Stock zu inspizieren. Irgendwo muss doch ein Lebenszeichen der Heilerin sein, oder wenigstens ein Hinweis darauf, was ihr zugestoßen sein könnte - Kampfspuren zum Beispiel, irgendwas, was sie Ira Verra berichten könnte. Von dem Verandadach gleitet sie wieder auf die Wiese das Gartens, und wo immer möglich, klettert sie zu den Fenstern im Obergeschoss (so denn ein solches überhaupt vorhanden ist). Auch hier gereicht ihre Statur und das eiserne Training um Vorteil - viel wiegt Sundara ja nicht, und das was ins Gewicht fällt sind hauptsächlich Muskeln und Sehnen. So genügt ihr ein Vorsprung, in den sie sich mit den Fingerkuppen krallen kann, um sich daran hochzuziehen. Die Stiefel hat sie ausgezogen und in die Büsche geworfen. Nackte Zehen können sich leichter an einer Wand festhalten als die Spitzen fester Stiefel.

Das leise Klicken der Türklinke, das ertönt, als die Frau die Tür öffnet, genügt. Sundara macht einen gehörigen Satz nach hinten. Unsanft prallt ihre Hüfte gegen das Geländer der Veranda. Zugleich hält sie auch schon Bogen und Pfeil in der Hand. Nur kurz zeigt die Spitze des Pfeiles auf die Frau, die aus der Tür getreten ist, dann geht die Spitze gegen den Boden, die Sehne entspannt sich leicht, zusammen mit dem schmerzhaften Ausdruck in Sundaras Gesicht. Die Auswirkungen des heißen Zylinders sind wohl nach wie vor bemerkbar, und doch scheint Sundara mit aller Kraft dagegen anzukämpfen. Nun denn, ob die Frau nun eine Soldatin ist oder nur so scheint, auch ihr dürfte klar sein, dass der Pfeil ihres Gegenübers weit schneller auf den Weg geschickt werden könnte, als dass sie die Distanz zwischen ihr und Sundara mit der Asnivala zu überbrücken vermag. Nun ist das Innere des Hauses noch immer dunkel, das letzte Licht der Shoa befindet sich hinter Sundara, wodurch die Frau Sundara vielleicht an ihrer Silhouette erkennt. Die zierliche Gestalt mit den breiten Schultern ist wohl bemerkenswert. Das Gesicht dürfte zu sehr im Dunkeln liegen, um irgendwelche Identifikation zu gewährleisten, und zugleich wird sie auch auf irgendeinen Gesichtsausdruck zur Deutung des Gegenübers verzichten müssen. Dafür ist das, was sie hört, reichlich trocken und bestimmt.

„Wo ist Misaki?“ fragt sie. „Was habt Ihr mit ihr gemacht?“

Nun erst erhellt sich Sundaras Gesicht. Die Stirn ist schweißnass, das Gesicht selbst von dem Dauerlauf noch immer leicht gerötet. Ihr Blick liegt tief, sehr tief in dem der blauäugigen Frau mit den dunklen Haaren. Es ist ein kühler, durchdringender, entschlossener Blick. Ein Blick, der wohl darauf schließen lassen würde, dass Sundara zu allem entschlossen wäre. Nur den Bruchteil eines Augenblicks zucken ihre Pupillen zu dem Fenster und damit dem Mann mit der Armbrust, dann fixiert sie wieder die Soldatin. Sundara hört natürlich die Leute hinter ihr. Schwer vorzustellen, dass diese mit Blumensträußen in der Hand hinter ihr stehen. Sundara könnte die Frau töten. Anspannen und Zielen geht zeitgleich, und auf diese kurze Entfernung ist letzteres gar nicht unbedingt nötig. Würde sie es aber schaffen sich schnell genug über die Brüstung der Veranda fallen zu lassen, bevor sie der Armbrustbolzen schwer verletzt? Und wenn, da wären immer noch die Leute hinter ihr, denen sie nicht entkommen würde. Sundara ist sich ihrer Lage bewusst. Doch ist sie schon mindestens einmal in einer hoffnungslosen Situation gewesen, damals, als Chelia gestorben ist, in der vermaledeiten Schlacht im vobrischen Urwald. Und auch da ist sie entkommen. Sie weiß zwar nicht mehr wie, aber irgendwie muss sie ja auf diese Insel gekommen sein. Egal. Das, was gewesen ist, zählt nicht mehr. Sie steht nun da, alleine gegen vier, fünf oder noch mehr Gegnern. Sundara steht regungslos. Der Pfeil steckt noch auf der Sehne, diese ist noch immer halb gespannt, die Spitze irgendwo zwischen der Frau und dem Boden. Sie sieht sie an. Nicht der Hauch von Furcht, nicht einmal irgendeiner Form von Respekt vor dieser doch für sie misslichen Lage ist in Sundaras Augen zu vermerken. Sundara schnaubt verächtlich durch die Nase.

"Ich habe Euch gefragt, wo Misaki ist," antwortet sie dann ruhig, aber bestimmt. Ihre Stimme ist heiser, aber das ist sie immer. "Also müsste Eure Frage beantwortet sein. Bleibt noch die meine."

Ein leichtes Lächeln umspielt plötzlich Sundaras Lippen, und in ihren Augen blitzt es kurz dementsprechend auf. Der Bogen geht vielleicht noch einen Clat weiter nach unten, die Sehne entspannt sich kaum sichtbar.

"Ihr könnt Euch sicher sein, mir würde es im Traum nicht einfallen, in Misakis Haus einzubrechen oder ihr überhaupt Böses zu wollen," sagt sie dann, immer noch gleich ruhig, während sie wieder ernst wird. Sie wirkt nicht übertrieben unfreundlich, und doch ziemlich bestimmt. Und man hat nicht den Eindruck, als würde ihr das Gehabe ihre Gegenübers, noch die Anwesenheit der ganzen Bewaffneten irgendwelchen allzugroßen Respekt abnötigen.

"Aber, wo kann ich Misaki finden?" fügt sie anschließend noch hinzu. Sie bleibt nach wie vor stehen, wo sie eben steht, ganz leicht an das Geländer gelehnt, und fixiert die Frau mit der Asnivala in ihrer so eigenen, intensiven Art. "Geht es ihr denn gut?"

Nein, Sundara ist keine Schauspielerin. Wohl bemüht sie sich, über den Versprecher der Dame Gleichgültigkeit zu zeigen, doch ist das Aufblitzen in ihren Augen unübersehbar. Und noch einmal blitzt es in ihren Augen, und zwar genau in dem Moment in dem die mysteriöse Frau ihre Drohung ausspricht. Sundara lehnt sich nun stärker an das Geländer, ob die leichte zusätzliche Spannung der Sehne nun der veränderten Körperhaltung geschuldet ist, oder aber ganz und gar gewollt, ist nicht festzustellen. Jedenfalls scheint Sundara hartnäckig bleiben zu wollen. Sie blickt die Frau immer noch gerade in die Augen, ja vergräbt sich förmlich in ihnen. Dann wiederholt sie erneut ihre Frage, dieses Mal mit einer kleinen Pause zwischen einem Wort und dem anderen, um eben jedem Wort etwas mehr Gewicht zu geben.

„Wo... ist... Misaki?“

Nun war Sundara in jedem Moment gefasst, von den Männern oder Frauen hinter ihr gepackt zu werden, ja, sie hat sich, so an das Geländer gelehnt, sogar jegliche Gelegenheit dazu gegeben. Umso weniger verzieht sie eine Miene, als sie den Schlag im Rücken verspürt. Sie lässt den Bogen los, hält Pfeil und Bogen nur mehr an der Sehne, da zieht es sie auch schon zusammen, verschnürt sie ein Paket. So schnell geht es, dass sie gar nicht die Gelegenheit dazu hat, dagegen anzugehen, und so fällt sie wie ein Posheyto-Sack vor die Füße der Frau. Sundara erschrickt im ersten Moment, doch das splitternde Geräusch eines berstenden Bogens bleibt aus. Auch der Pfeil mit der für sie wohl wertvollen Spitze liegt eng am Körper an, doch mehr als einen oberflächlichen Kratzer bringt er in dieser Position nicht an das Bein der Bogenschützin. Ein schmerzhafter oder ein wütender Aufschrei bleibt aus, vielmehr seufzt Sundara tief. Sie hat alles erfahren, was es zu erfahren gibt, und mehr kann sie im Moment nicht tun. Also wartet sie darauf was nun geschieht, denn, verschnürt wie sie ist, ist an eine ordentliche Fortbewegung gar nicht zu denken. Auch der Rückweg bis zu dem Haus, in dem sie mit Ira, Keresin und Inara die Nacht zu verbringen dachte, würde in diesem Zustand wohl einige Jhane dauern, ist es ihr doch wohl nur möglich, einen Fuß nur eine halbe Länge desselben vor den anderen zu setzen. Sie ist nun also völlig den Wachen ausgeliefert. Beunruhigung ist jedoch keine zu verspüren.

Sundara hat es auf eine Konfrontation angelegt. Sie ist ganz bewusst so weit gegangen, bis die Frau eine für sie doch erwartungsgemäß unangenehme Reaktion an den Tag legt. Sundara ist nicht zimperlich. Einen Faustschlag, ein weit brutaleres Entfernt-Werden von dem Haus hätte sie hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber so eingeschnürt wie ein frisch geräuchter Schinken auf irgendeiner Gasse zurückgelassen zu werden, das geht Sundara nun doch sichtlich gegen den Strich. Dementsprechend laut und langgezogen ist das „Heeeeeeyyyyy, ihr könnt mich doch nicht so hier lassen!“, das sie den beiden Wachen hinterherschleudert.

Zwar ist Sundara nicht groß, aber doch recht hübsch anzuschauen, und ihre Augen vermögen doch fast jeden zu verzaubern. Leider hatten die Wachen kein großes Interesse daran, in ihre Augen zu schauen. Und so ist der langgezogene Schrei vergebens, bar jeder Antwort. Die Wachen verschwinden im Haus. Sundara liegt auf der Straße. Eine kleine Weile flucht sie vor sich hin. Sie will nicht hier, auf der Straße liegend, den nächsten Morgen abwartend, darauf hoffend, dass sie irgendjemand findet, und womöglich jemand, der ihr auch wohlgesinnt ist. Eine Weile versucht sie dann, gegen das Netz anzukämpfen, zu zerren, zu reißen, wie auch immer es ihr in ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit möglich ist. Doch ist das Netz zwar dünn, aber äußerst zäh und reißfest. Bald nimmt sie davon abstand. Einige Atemzüge lang liegt sie wieder still da, flucht ordentlich. Dann setzt sie sich auf. Sie winkelt die Beine an, und nach einen oder zwei vergeblichen Versuchen gelingt es ihr, sich auf die Füße zu stellen. Sie beginnt nun, in die Richtung ihres Hauses zu tippeln. Es gelingt ihr nicht, einen Fuß komplett vor den anderen zu stellen, dementsprechend langsam geht diese Art der Forbewegung vonstatten. Bald wird es dunkel, und jede Unebenheit auf der Straße gestaltet sich zum ernstzunehmenden Hindernis. Immer wieder stolpert sie, fällt hin. Immer stärker schmerzen ihre Knie von den Aufprällen auf dem Pflaster, mehr als einmal knallt sie auch mit dem Kopf gegen dasselbe. Schließlich hat sie die Faxen dicke von dem Hinfallen. Sie beginnt nun, sich einfach durch Rollen fortzubewegen. Das geht nun schneller als das Tippeln. Allerdings ist ihr nun so richtig der Bogen im Weg. Immer wieder muss sie über den Bogen wegtauchen, um ihn nicht zu zerbrechen, und der Pfeil bohrt sich immer wieder in ihren Schenkel. So werden nun zwar ihre Knie geschützt, allerdings sehr zuungunsten ihrer Schultern und eben des Oberschenkels. Sie gibt das auch auf. Wieder zerrt sie an dem Netz herum, doch das ganze Rumscheuern auf dem Pflaster hat wohl ihrem Hemd den endgültig letzten Rest gegeben, ihre Arme ziemlich aufgekratzt, dem eigenartigen Gewebe jedoch nichts anhaben können. Sie geht also wieder zu Plan A über und tippelt nun wieder die Straße hinunter.